5. September 2014No Comments

Per Anhalter nach Lissabon (2)

Good luck to all hitch-hikers - Dara & Mitzy (Ireland)

Der Satz steht mit dickem Edding an die Toilettentüre der Raststätte geschrieben. Unwillkürlich überkommt mich eine Gänsehaut und ich frage mich, wie Dara und Mitzy von unserem Abenteuer wissen konnten, denn ganz offensichtlich hatten sie diese Nachricht ganz speziell für uns geschrieben. So jedenfalls fühlte es sich an.

Am Morgen waren wir in Toledo zu unserer letzten Etappe aufgebrochen. Knapp 600 km trennen uns nur noch von Lissabon. Die A5 führt an Toledo vorbei direkt nach Portugal. Wenn wir es auf eine Raststätte an der Autopista schaffen würden, sollte der Rest ein Kinderspiel sein.

Zunächst aber müssen wir erst mal raus aus der Stadt. Das ist in der Regel der schwierigste Teil des Hitchhikens. Noch im Hostel legen wir uns einen groben Plan zurecht und suchen uns auf der Karte Orte aus, von denen wir glauben, dass die Chance dort relativ groß sei mitgenommen zu werden. Zufahrtsstraßen oder Kreisverkehre in Autobahnnähe sind dafür am besten geeignet, die tatsächlichen Begebenheiten vor Ort können wir allerdings nur erahnen. Wichtig ist, dass uns potentielle Fahrer früh genug sehen. Sie dürfen an der Stelle nicht zu schnell sein und müssen Platz und Zeit zum Anhalten haben.

Wir wollen früh los, weil die Temperaturen im Landesinneren im Sommer gerne auf über 35 Grad im Schatten ansteigen. Frühstück gibt es im Hostel erst ab acht Uhr, ich will die Zeit allerdings noch für einen kleinen Foto-Spaziergang im Morgengrauen nutzen. Also schlendere ich noch etwas schlaftrunken durch die leeren, verwinkelten Gassen, während sich die Sonne langsam über die verzinnten Mauern der historischen Altstadt schiebt.

Bis wir gefrühstückt und gepackt haben ist es zehn Uhr. Der Bus bringt uns bis an den Stadtrand. 20 Minuten später erreichen wir den Kreisverkehr unserer Wahl. Außer Straße, Sand und Sonne gibt es hier draußen nichts. Keine zehn Tage vorher hatten wir noch mit Jacke und Regencape an der Straße gestanden, heute brennt uns die Sonne die Haut vom Leib. Unseren kleinen Regenschirm funktionieren wir kurzerhand zum Sonnenschirm um. Wenn uns hier schon niemand aus reiner Nächstenliebe mitnimmt, dann vielleicht aus Mitleid.

Es dauert zwei Stunden, bis uns Ángel erlöst. Der Geschäftsführer von Siemens Healthcare in Spanien ist ein wahnsinnig interessanter Gesprächspartner. Von ihm lerne ich mein neues spanisches Lieblingswort: "Duende". Übersetzt bedeutet es Kobold, bezeichnet aber auch Dinge oder Orte mit einem ganz besonderen, magischen Charme. Toledo sei für ihn eine von drei Städten in Spanien mit „Duende". Sevilla hatte ich vor zwei Jahren schon kennen und lieben gelernt. Granada steht für die Rückreise auf dem Programm.

Mit Toledo im Rückspiegel muss ich an das Ziel unserer Reise denken. Lissabon ist für mich schon jetzt eine Stadt mit „Duende", ohne dass ich sie jemals gesehen habe. Im Laufe der letzten zwei Jahre hat sich die Stadt am Tejo zu so etwas wie meinem Sehnsuchtsziel entwickelt. Der Roman "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier besiegelte dann endgültig den Entschluss zu meiner Reise. Und nun spüre ich, wie sich meine Vorfreude, die Spannung auf das uns erwartet, aber auch die Erwartungen mit jedem Tag und jedem Kilometer steigen.

Ángel setzt uns an einer ideal gelegenen Raststätte direkt an der A5 ab und verabschiedet sich mit den besten Wünschen. Wir kaufen uns eine Wassermelone und setzen uns in den Schatten. „Good luck to all hitch-hikers“. Das Glück können wir wirklich gebrauchen. Spanien gilt als sehr schwieriges Land um per Anhalter zu fahren. Ángel ist in Spanien der einzige Fahrer, der uns vom Straßenrand mitnimmt. Alle anderen Mitfahrgelegenheiten müssen wir uns mühsam erarbeiten, indem wir Leute direkt ansprechen.

Die besten Orte dafür sind natürlich Tankstellen, oder besser: Autobahnraststätten. Doch dahin zu kommen ist nicht immer einfach. Als wir in Bilbao Richtung Madrid mit Daumen und Pappschild keinen Erfolg haben, es aber laut Karte irgendwo in der Nähe eine Raststätte geben muss, versuchen wir es zu Fuß. Als wir den Ort endlich erreichen, müssen wir feststellen, dass zwischen uns und unserem Ziel ein Fluss durchs Tal rauscht und dahinter eine steile, wild bewachsene Böschung auf uns wartet. Während ich noch mit unserem Schicksal hadert, ist Simon schon den Hang um Fluss runtergeklettert und steht mit seinen Schuhen in der Hand knietief im Wasser. Vielleicht gibt es flussaufwärts eine Möglichkeit die Böschung hochzuklettern. Der Fluss ist etwa 15 Meter breit, aber hier scheint das Wasser nicht so tief zu sein. Ein paar größere Steine ragen aus dem Wasser heraus, dazwischen wirbelt die Strömung das Wasser so auf, dass man das Flussbett nicht sehen kann. Mir bleibt nichts anderes übrig als mich auf meine Balance und den Tastsinn meiner Füße zu verlassen. Der Rucksack auf dem Rücken und das Wissen um mein iPhone und meine Kamera im Gepäck machen das Unterfangen nicht leichter. Aber wie ist das noch: Der Weg ist das Ziel! Na gut, also irgendwie durch. Trotz der kurzen Nächte und anstrengenden Tage fühle ich mich plötzlich hellwach und quicklebendig.

Das andere Ufer erreichen wir schließlich schweißgebadet, aber mit trockenen Rucksack. Ein Pfad führt uns noch einige hundert Meter am Fluss entlang, bis wir zu unserer Erleichterung eine Stelle in der Böschung finden, die nicht komplett zugewachsen war. Nach einer abenteuerlichen Kletterpartie stehen wir vor unserer Raststätte. Zur Belohnung gibt es einen kräftigen Schluck aus der kleinen Whiskey-Flasche, die für besondere Momente auf der Reise bestimmt ist: zum Aufmuntern nach Niederlagen oder zur Feier von kleinen Erfolgen. Letzteres ist mir eindeutig lieber.

"Perdon, estamos haciendo autostop a Lisboa y buscamos un viaje en direción de Portugal." Das Ansprechen von fremden Menschen verlangt immer wieder neu Überwindung, aber mit der Zeit werden wir etwas sicherer und ich freue mich schon auf meinen zwei-wöchigen Spanisch-Kurs, den ich im Anschluss an Lissabon in Valencia machen werde. Ich bin froh, dass Simon dabei ist, der auch Situationen bewältigen kann, in denen ich nur noch Spanisch verstehe, sozusagen.

Für die letzte Etappe unserer Reise ergibt sich dann aber noch mal eine ganz besondere sprachliche Herausforderung. António, ein Portugiese, der geschäftlich in Madrid unterwegs und nun auf dem Rückweg nach Portugal ist, spricht kein Englisch und nur sehr gebrochen Spanisch. Trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - ist diese Fahrt für mich eine der eindrücklichsten unserer ganzen Reise. Die Frage, was unsere Fahrer davon haben, wenn sie uns mitnehmen, konnten wir bisher immer ganz gut beantworten. Sie freuen sich über Gesellschaft und die ein oder andere Geschichte. Viel mehr können wir ihnen ja auch gar nicht bieten. Für António stellt sich das anders dar. Abgesehen von der Tatsache, dass wir uns kaum verständigen können, hat er als Geschäftsführer eines Architektur-Büros mit mehr als 70 Mitarbeitern sicherlich andere Dinge im Kopf. Während der Fahrt führt er geschätzte 30 Telefonate und seine Termine kann er nur deswegen einhalten, weil er mit 200 Sachen über die Autopista prescht. Trotzdem haben wir nie das Gefühl, dass wir ihm eine Last seien.

António hat am Abend noch einen geschäftlichen Termin in Safara, einem winzigen Dorf hinter der portugiesischen Grenze. Er bietet uns an, ein Hotelzimmer im nahegelegenen Moura für uns zu reservieren und uns dann am nächsten Tag in aller Frühe direkt nach Lissabon zu fahren. Wir nehmen dankbar an und fahren weiter Richtung Portugal, der schon tief stehenden Sonne entgegen. Als die Scheibe langsam hinter den sanften Hügeln des portugiesischen Hinterlandes verschwindet, sitzen Simon und ich auf einer Bank vor den Häusern von Safara und genießen eine Idylle, wie ich sie mir für Portugal nicht schöner hätte ausmalen können. Ein paar ältere Herren mit Schiebermütze sitzen auf den Stufen vor der Kirche, zwei Kinder spielen im Staub Fußball. In der Ferne Hundegebell. Weit weit weg die Hektik des Alltags.

Davon lässt sich nun auch António anstecken. Nach einer guten Stunde holt er uns ab und verkündet, dass er gerade einen Deal über 50.000€ abgeschlossen hat. Zur Feier des Tages lädt er uns ins Restaurant „O Trilho“ ein. Warum wir dort Haifischsuppe essen erschließt sich mir nicht so ganz, aber es ist mir auch egal. Ich fühle mich gut, als wir durch die von den Straßenlaternen in gelbliches Licht getauchten Gassen von Moura spazieren. Die Nacht verbringen wir in einem zum Hotel umfunktionierten Palast, der mit Abstand schönsten Bleibe unserer Reise und für 22€ pro Person unglaublich günstig.

Am nächsten Morgen stehen wir mit der Sonne auf, genießen ein königliches Frühstück im Speisesaal und setzen uns ein letztes Mal ins Auto.

16 Tage und fast 2.800 km liegen hinter uns, als wir über die 17 Kilometer lange Ponte Vasco da Gama nach Lissabon reinfahren. Die Morgensonne im Rücken lässt die Stadt weiß erstrahlen, in der Ferne die grünen Hügel von Sintra und eine Ahnung vom Atlantik, der sich bis weit hinter den Horizont erstreckt. Wir haben es geschafft!

2. August 2014No Comments

Per Anhalter nach Lissabon (1)

Als Javi die zweite Flasche Rioja anbricht und ich der spanischen Unterhaltung nicht mehr so ganz folgen kann, klinke ich mich für einen Moment aus und lasse die Szene einfach auf mich wirken. Simon und ich sitzen mit unserern Gastgebern in der Küche, vor uns eine selbstgemachte Tortilla, vier Sorten Käse und kleine, gedünstete Paprikas, die sie neben ihren Tomaten und den drei Hanfpflanzen auf dem Balkon ihres Apartments im Casco Vieja von Bilbao anbauen. Arturo ist Künstler, sein Lebensgefährte Javi ein bisschen Philosoph, ein bisschen Historiker, offiziell aber Bauzeichner und des englischen nicht mächtig. Also diskutieren wir auf Spanisch, so gut es geht, bis spät in die Nacht.

Es sind Momente wie diese, die uns zu unserer Reise inspiriert haben. Per Anhalter nach Lissabon, ein Leben am Straßenrand und auf den Sofas fremder Menschen, vollkommen abhängig von der Hilfsbereitschaft anderer, offen für alles und jeden, dem wir auf unserer unkonventionellen Reise begegnen.

Oder eben nicht gegegnen... Denn die allermeisten Menschen fahren einfach an uns vorbei ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. Einige grinsen uns an, als hätten sie noch nie Anhalter gesehen (haben sie vielleicht auch nicht). Andere zucken mitleidig mit den Schultern oder versuchen uns klar zu machen, dass sie keinen Platz oder keine Lust haben oder nicht in unsere Richtung unterwegs sind.

Nach einer halben Stunde Warten beginnen die Spekulationen: Stehen wir an der falschen Stelle? Ist die Beschriftung  auf dem Schild nicht gut? Nach einer Stunde schauen wir mal wieder auf die Karte und legen uns einen Alternativplan zurecht. Nach zwei Stunden macht sich existentieller Zweifel breit. Vielleicht hätten wir doch lieber zuhause bleiben oder einfach fliegen sollen? Es ist eine Lektion in Geduld! Am zweiten Tag halten wir bei Mulhouse fünf Stunden an der Straße durch, bevor wir unsere Bemühungen aufgeben und die vier Kilometer ins Stadtzentrum laufen um uns ein Hostel zu suchen.

Es dauert drei ganze Tage, bis wir Lyon erreichen. Dort verbringen wir einen unglaublich schönen Tag, bevor wir uns auf zur nächsten Etappe machen. Klar, der Weg ist das Ziel, aber es drängt sich die berechtigte Frage auf: Warum dieser ganze Aufwand?

Auf einer Tankstelle am anderen Ende von Mulhouse kommen wir mit Marc ins Gespräch, einem etwas verpeilten aber sehr herzlichen Typen um die 50, der mit seinem 20 Jahre alten Fiat Coupé von Bergen in Norwegen bis nach Marokko unterwegs ist. Er fährt die Strecke am Stück, schläft hin und wieder ein paar Stunden auf Rastplätzen und freut sich über die willkommene Abwechslung genauso wie wir. Der Kühler des Coupés funktioniert nicht, wir müssen also die Heizung auf volle Pulle warm stellen und während der Fahrt alle Fenster öffnen. Alles egal. Mit 90 Kilometern pro Stunde, einem großen Glücksgefühl und einer weiteren abgefahrenen Geschichte im Gepäck zuckeln wir über die Autobahn nach Lyon.

Ich bin gespannt welche Eindrücke diese Reise für mich persönlich hinterlassen wird. Jean-Claude, der uns von Sélestat nach Mulhouse mitnimmt, erzählt, wie er vor 40 Jahren als 16-jähriger durch Frankreich getrampt ist. Die Erfahrung, sagt er, war unendlich viel mehr wert, als die zwei Wochen Schulunterricht, die er damals geschwänzt hat.

In Bordeaux laufen wir gleich mehreren Hitchhikern über den Weg. Pollux und Justine sind in der Bretagne gestartet, Lucas in Delft. Alle sind auf dem Weg nach Portugal, wo Anfang August ein alternatives Elektro-Festival mit allerlei Kunst und Performance stattfindet. Das erklärt auch die aufgällig hohe Dichte an Regenbogen-Schlabberhosen, Dreadlocks und Backpacks sowie den Mangel an Couchsurfing-Unterkünften in Bordeaux.

Die erste Nacht verbringen wir in einem Hostel, für die zweite Nacht bekommen wir dann doch noch ganz spontan eine Zusage. Frederic ist mit Leib und Seele Musiker. Aber weder Chanson-Sänger noch Akkordeon-Virtuose, sondern knallharter Metal-Head. So sieht er aus und so lebt er. Seine Wohnung hat einen morbiden Charme. Aber als wir uns dann im Dick Turpin Inn noch mit seinen Freunden treffen, wird mal wieder jegliches Schubladendenken über den Haufen geschmissen. Ich liebe solche Momente und muss an Paolo Coelho denken, der mal sagte beim Reisen solle man lieber Bars besuchen als Museen, weil sich dort das wahre Leben abspielt.

Ich habe im letzten Jahr selber einige Couchsurfer gehostet und dabei ganz gute Erfahrungen gemacht. Eine Surferin sagte mal: "Ich couchsurfe nicht um zu reisen, sondern ich reise um zu couchsurfen". So ähnlich könnte man den Grundgedanken unserer Reise formulieren.

Hätte ich jemals Zweifel am Prinzip Couchsurfing gehabt, er wäre gleich am ersten Abend unserer Reise vollständig vernichtet worden. An unserem Startpunkt, der Raststätte Denkendorf bei Stuttgart wurden wir von Thomas aufgesammelt, der eigentlich direkt bis nach Lyon durchfahren wollte. Wir wähnten uns schon im Hitchhiker-Himmel, bis uns kurz hinter der Grenze die Gendarmerie in Gambsheim ein Strich durch die Rechnung machte. Thomas hatte nur Kopien der Fahrzeugpapiere bei sich und durfte deswegen nicht weiterfahren. Bis wir eine Fahrt nach Strasbourg gefunden hatten vergingen gute zwei Stunden. Und noch mal so lange standen wir an einer Autobahnauffahrt in der Hoffnung noch nach Dijon weiterfahren zu können. Als die Straßen um neun Uhr abends praktisch leer waren, mussten wir einsehen, dass wir hier heute nicht mehr wegkommen.

Im McDonalds schickten wir schnell noch ein paar verzweifelte Couch-Anfragen raus. Es war Montag abend, nach zehn Uhr und wir gedanklich schon in einem knarzenden Etagenbett. Als ich gerade meinen Personalausweis auf den Tresen in der Rezeption des Hostels legen wollte, kam eine Nachricht von einem potentiellen Host mit der Frage ob wir denn schon eine Schlafmöglichkeit gefunden hätten, wir könnten sonst gerne bei ihr pennen! Wenig später saßen wir bei Charlotte in der Küche, aßen Eier à al coque mit Käse, schlürften Tee aus dem Iran und tauschten uns über unsere (noch wenigen) Erfahrungen beim Hitchhiken aus. Am nächsten Tag verabschiedeten wir uns von ihr wie von einer guten Freundin, die wir lange nicht mehr gesehen hatten.